Heimatreise durch sanfte Klänge und ängstliche Erwartung
Eine psychologische Betrachtung über Senza Sangue, die neue Oper von Péter Eötvös
Die Familie eines Mädchens wird von faschistischen Soldaten umgebracht, aber das Mädchen wird gerettet. Viele Jahre später trifft sie erneut auf den Soldaten, der einst ihr Leben gerettet hat. Gerüchten zufolge hat sie zuvor die anderen drei Soldaten ermordet, aber diese Begegnung nun hat für sie eine heilende, romantische Wirkung. Senza Sangue, der Roman des Schriftstellers Alesandro Baricco, versetzt einen in eine nackte, aussagekräftige Welt wie in italienischen Filmen der sechziger Jahre.
Der transsilvanische Komponist Péter Eötvös arbeite oft mit der geheimnisvollen Verbindung zwischen Liebe und Katastrophe. Das zeigt sich aktuell darin, dass er diesen Roman als Handlungsvorlage für seine neue Oper auswählte. Am 1 Mai im Rahmen des ACHT BRÜCKEN Festivals präsentierten die New Yorker Philharmoniker die Uraufführung, mit der Mezzosopranistin Anne Sofie von Otter und Bariton Russel Braun. Als Musiker mit großer Affinität zum Theater bezieht sich der versierte Komponist häufig auf Weltliteratur. Einige seiner Opern basieren auf Werken Anton Tschechows und Gabriel Garcia Marquez’. Die Libretti seiner Opern belässt er in der Originalsprache, auch wenn diese japanisch ist.
Eötvös ist ein Komponist am Höhepunkt seiner Schaffenskraft. Ein Bewusstsein für seine Position in der Geschichte ist in Senza Sangue spürbar. Nach der klassischen Tradition versteckt er in den ersten zwei Tönen der Oper die Initialen seines neulich verstorbenen Kollegen Henri Dutilleux. Er bezeichnet sowohl die gestische Qualität der schwarzweißen Filme seiner Jugend als Einflüsse des Stückes, als auch seine „musikalische Muttersprache“, den Kompositionsstil Béla Bartóks. Senza Sangue soll eigentlich vor Bartóks einaktiger Oper Herzog Blaubarts Burg aufgeführt werden. Ein Platz, der oft für Schoenbergs Erwartung bestimmt ist. Es war am Freitag Abend aber nicht so, vielleicht, weil die weltberühmten New Yorker Philharmoniker lieber reine Orchesterliteratur spielen.
Eötvös’ jüngste Komposition nähert sich deutlich einem spätromantischen Stil an. Aber noch mehr bezieht sich Senza Sangue stilistisch auf die psychologisch aufgeladenen Einakter Schönbergs und Bartóks. In dieser Tradition stellt Eötvös eine befremdliche Distanz zwischen spannender Handlung und abstrakter, enthobener Musik her; eine Konstruktion, die dem von Freud entworfenen Verhältnis von ich und es ähnelt. Senza Sangue und Herzog Blaubarts Burg behandeln eine spannungsreiche Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau. Diese Beziehung bewegt sich immer zwischen den Polen Gefahr und Anziehung. Möglicherweise ist dies ein vertrautes Gefühl für Eötvös in Bezug auf seine Heimat: mit zweiundzwanzig verließ er das politisch instabile Transsylvanien, das damals zu Ungarn gehörte und heute Teil von Rumänien ist, um mit Stockhausen in Köln zu studieren. Bis heute ist er nicht dorthin zurückgekehrt. Bemerkenswert ist, dass in Zusammenhang mit den sieben Türen, die den zeitlichen Verlauf von Herzog Blaubarts Burg gliedern, es auch genau sieben Szenen in Senza Sangue gibt. Hier zeigt sich wieder Eötvös’ Liebe zum Detail wie in den schon erwähnten, Dutilleux gewidmeten Tönen. Die Türen symbolisieren die musikalischen und innerlichen Entdeckungen Eötvös’ während des Kompositionsprozesses.
I recently had the pleasure of attending the Acht Brücken l Musik für Köln festival, as well as taking part in a music journalism seminar there under the guidance of Holger Noltze. Together we accompanied eleven days of concerts, lectures and other events having to do with the festival's 2015 theme, "Musik. Politik?" on this blog. This piece is republished here by permission of the Acht Brücken Schreibschule.